Fremdwort "Loyalität" – Richard Wagner und sein Begriff von Freundschaft

Er war schon zu Lebzeiten als zumindest unangenehmer Mensch verrufen, der geniale Richard Wagner. Doch wie unerträglich er wirklich war, interessierte niemanden so recht. Seine Anhänger ignorierten die menschliche, allzumenschliche Seite Wagners, so gut es ging, und setzten alles daran, um die Unzulänglichkeiten des Meisters herunterzuspielen und Entschuldigungen für unangebrachte Verhaltensweisen zu finden. Seine Gegner fanden genügend Angriffspunkte in Wagners Musik und hatten daher auch keine Veranlassung, sich mit seinen charakterlichen Schwächen auseinanderzusetzen. So blieben Wagners "Abscheulichkeiten" aufs Anekdotische beschränkt.

Der geachtete Musikforscher Wilhelm Tappert etwa, ein glühender Wagneranhänger, gab 1876 eine Sammlung von Hassworten und schlechten Wagnerkritiken heraus, der 1903 eine überarbeitete Version folgte. In seiner lexikalisch geordneten Blütenlese hat Tappert eine einzige Andeutung auf den "verachtenswerten" Menschen Wagner aufgenommen. Der Eindruck, er hätte sie als besondere Absurdität eingebaut, als könnte er so deren Bedeutung herunterspielen, drängt sich auf. Hier steht: "L'homme (Wagner) est méprisable à tous égards, je le sais bien, mais l'artiste commande le respect, c'est certain. – Der Mensch Wagner ist in jeder Hinsicht verachtenswert, das weiß ich wohl, doch der Künstler gebietet Respekt, das steht fest." (Albert Wolff im Pariser Figaro vom 3. März 1882). (1)

Dieses kleine Zitat passt perfekt in das Tappert'sche Konzept. Mit seiner Spötter- und Nörglersammlung, der er den ausschweifenden Titel "Richard Wagner im Spiegel der Kritik. Wörterbuch der Unhöflichkeit, enthaltend grobe, höhnende, gehässige und verleumderische Ausdrücke, die gegen den Meister Richard Wagner, seine Werke und seine Anhänger von den Feinden und Spöttern gebraucht wurden. Zur Gemütsergötzung in müßigen Stunden" gab, wollte er die Leser nicht amüsieren. Vielmehr sollten sie sich "erstaunt und entrüstet fragen: Wie war es möglich, dass man Richard Wagner, einen mächtigen Großfürsten in der Kunst, einen wirklichen Mehrer des Reiches der Töne, so schändlich behandeln konnte?" (2)

In seinem Eifer passierte Tappert ein Fehler – oder war es Absicht? Albert Wolff, der damalige Chefredakteur des Pariser Figaro, schrieb im besagten Artikel nicht "je le sais bien / das weiß ich wohl", sondern "je le veux bien", was so viel heißt wie "es ist mir egal". Das aber kehrt die Bedeutung des ganzen Zitats ins Gegenteil. Wolff wollte nicht, wie Tappert suggerieren möchte, den Menschen Richard Wagner in Grund und Boden verdammen, nein: in seinem Artikel lobt Wolff Wagners Lohengrin als "absolutes Meisterwerk" in den Himmel (3), und nichts trübt seine Hochachtung, obwohl er genug über Wagner hätte wissen können: Seine notorischen antisemitischen Ausfälle waren bekannt, seine unschönen Finanzgeschichten ruchbar, und über seine Frauengeschichten war auch damals schon genug durchgesickert. Nur ein winziges Detail störte den überaus bedeutenden Kunstkritiker Wolff: dass Richard Wagner ein Pamphlet gegen Paris veröffentlicht hatte, und zwar Jahre nach den ins Chaos gepfiffenen Tannhäuser-Aufführungen 1861 und nicht gleich, noch im Jahr des Skandals.

Dieses Bestreben, dem Genie Richard Wagner jede menschliche Unzulänglichkeit nachzusehen, ist symptomatisch und wird bis heute gepflogen. Heute noch versuchen Wagnerforscher des Meisters unflätigen Antisemitismus erklären und damit abschwächen zu wollen.

Ulrich Drüner stellt die Frage, wie Wagners Genie funktionierte, und kommt durch umfangreiches Quellenstudium zum Schluss, dass Wagners Hauptstimulans – neben dem Schwelgen in Samt, Seide und Luxus und hin und wieder Laudanum, das er "Lindemanns Pulver" nannte (4) – Aggression war. "Befruchtende Gewitter" nennt Wagner diese von ihm herbeigeführten Ausbrüche in einer Notiz an Mathilde Wesendonck (5). Diese befruchtenden Gewitter waren durchaus unterschiedlicher Natur. Solange er sich gut mit seiner Frau Minna verstand, tobte er sich im Bett aus. Oder im Streit, je nachdem (6). Später war das Stimulans die unerträgliche Spannung, die das Begehren einer unerreichbaren Frau hervorrief. Der bekannteste Fall: Tristan. Hier war Mathilde Wesendonck und die Beziehung, die tatsächlich chaotisch und nervenaufreibend verlief, die treibende Kraft.

Ein weiteres Stimulans: plötzlich hereinbrechender Stress. Die dramatischen Umstände, die die Tristan-Uraufführung am 10. Juni 1865 in München begleiteten – die geifernden Angriffe der Presse, der Widerstand der Musiker, die langen, aufreibenden Proben, der plötzliche Tod des Hauptdarstellers Schnorr von Carolsfeld nach drei umjubelten Aufführungen – stürzten Wagner in eine tiefe existentielle Krise, die erst durch König Ludwig II. beendet wurde. Er wollte nämlich sobald wie möglich den Entwurf zu Parsifal lesen, was Wagner in eine Art schöpferische Raserei versetzte, an die er sich vier Wochen später als einen Zustand "wie ein verlorenes Paradies" (7) erinnerte.

Drüner meint, Wagner hätte durchaus Mittel und Wege gewusst, sich in diese "Paradiese" zu versetzen. Ehekrach mit Cosima dürfte dazu gehört haben. Die arme Frau war völlig verstört, als Richard am 3. Juni 1869 einen seiner legendären Wutanfälle hatte. Da sie sich weigerte, in dem ihr zugewiesenen Zimmer zu schlafen, verlegte Richard sein Schlafzimmer einen Stock nach unten, um genügend räumlichen Abstand zu ihr zu haben (8).

Auch die antisemitischen Ausfälle Wagners seien "Eintrittskarten" zum Paradies gewesen, meint Drüner und zitiert aus dem Brief Wagners an Liszt, am 18.April 1851, in dem er das 1850 anonym veröffentlichte Pamphlet Das Judentum in der Musik ausdrücklich als sein Werk bezeichnete und wie folgt rechtfertigte: "Ich hegte einen lang verhaltenen Groll gegen diese Judenwirtschaft, und dieser Groll ist meiner Natur so notwendig, wie Galle dem Blute." (9) Der Groll als schöpferisches Mittel, der sich in besonderem Maß als Judenhass äußert, verhalf Wagner im Sommer 1850 zu den ersten ihn zufrieden stellenden Skizzen der Götterdämmerung sowie zu einem gelungenen Kompositionsfragment Siegfrieds Tod. Und die 1869 unter seinem wirklichen Namen publizierte Neuausgabe des Pamphlets Das Judentum in der Musik lief parallel mit der "Wohltat" der Arbeit am Siegfried (10).

Noch keine Rechtfertigung ist in der Wagnerliteratur für ein Verhaltensmuster aufgetaucht, das sich mit geringfügigen Abwandlungen durch das ganze Wagner'sche Leben zieht: ihm sympathische oder nützliche Menschen überschüttete er erst mit Schmeicheleien, um sie alsbald für seine Zwecke einzuspannen und sich schlussendlich mit großem Getöse von ihnen abzuwenden.

Eines der prominentesten Opfer war Friedrich Nietzsche. Bevor er Wagners Meistersinger und in Folge dann den Meister persönlich kennen lernte, am 8. November 1868 in Leipzig, war er eher Wagner-skeptisch eingestellt. Dieser eine Abend änderte alles. Wagner war so begeistert von Nietzsches leidenschaftlichem Vortrag des Preislieds, dass er ihn mit einer Ein-Mann-Aufführung der Meistersinger belohnte, bei der er "alle Stimmen imitierte und sehr ausgelassen war" (11).

Die gegenseitige Sympathie hielt an. Zu Pfingsten 1869 besuchte Friedrich Nietzsche als frischgebackener Baseler Professor noch vor seiner Antrittsvorlesung die Wagners in Tribschen. Doch Wagner hatte sich verändert. War er in Leipzig unbeschwert und fröhlich gewesen, weit entfernt von der gestrengen Cosima, hatte er nun auf Cosimas Wunsch den Geistesfürsten zu spielen. Cosima bestimmte die Regeln, und jeder Gast, der zu Richard wollte, musste durch ihr Vorzimmer. Seltsamerweise erlaubte sie Nietzsches Besuch, als die Geburt ihres dritten Kindes unmittelbar bevorstand. Als Wagner dann den neugeborenen Siegfried, genannt Fidi, in Armen hielt, schwärmte er, dass der Kleine dereinst von "Wotan" Nietzsche erzogen werden sollte, "sonst wird er zum Phantasten, vielleicht zum Crétin, wie wir so etwas an dem König von Bayern sehen" (12) – auch eine freundliche Art, von einem glühenden Verehrer und aufopfernden Förderer zu reden!

Wagners Liebesbezeugungen an seinen Anbeter Nietzsche gipfelten in einer Art Adoption. "Genau genommen sind Sie, nach meiner Frau, der einzige Gewinn den mir das Leben zugeführt: nun kommt zwar glücklicher Weise noch Fidi dazu; aber zwischen dem und mir bedarf es eines Gliedes, das nur Sie bilden können, etwa wie der Sohn zum Enkel." (13) Und der "Sohn" dankte es, indem er sich Botengänge auferlegen ließ, Besorgungen machte, oder kleinere Arbeiten für den Meister und seine Entourage erledigte: Nietzsche besorgte in Basel Tüll mit Sternchen für Weihnachten, in Straßburg "einige Pfund Caramels" und weitere Leckereien. Er überwachte die Drucklegung von Wagners Autobiographie Mein Leben. Er expedierte holländische Heringe an die Wagners, russischen Kaviar und auch "zwei Paar seidener Unterjacken und Hosen Baseler Fabrikat feinste Ware." (14)

Nietzsche ertrug Wagners kleine und gröbere Neckereien, schickte seine philosophischen Arbeiten nach Tribschen, damit Wagner und Cosima sie begutachten und kommentieren konnten, drängte und beschwor seine Freunde, sich an der Finanzierung des Bayreuther Festspielhauses zu beteiligen und zur Grundsteinlegung zu kommen. Wagner freute sich natürlich über Nietzsches Einsatz für Bayreuth. Aber er sah mehr in ihm und ihrer Freundschaft, nämlich das verkörperte Bündnis von Philologie und Musik, Wissenschaft und Kunst, Rationalität und Inspiration, das sich gegenseitig befruchten, zu wechselseitiger Vollendung und zum Gipfel der Kunst führen würde. "Ich bin nämlich, wie Wagner sagte", schrieb Nietzsche siebzehn Jahre später, am 7. 2. 1870, in einem Brief an den Schweizer Literaturkritiker Josef Widmann, "eigentlich ’ein verunglückter Musikus’' (er selbst sei ein ’verunglückter Philologe’)." (15)

Nietzsche setzte für Wagner seinen guten Ruf aufs Spiel, indem er seine Vorträge mit Spitzen gegen Wagners Feinde spickte, was die akademischen Kreise Basels in höchstem Maße irritierte. Als er 1872 Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik veröffentlichte, war seine akademische Karriere ruiniert. Die Verbindung zu den Wagners blieb dennoch aufrecht, immerhin zog Nietzsche mit gezogenem Schwert in die Welt, um alle den Meister Bedrohenden oder zu nahe Getretenen zu erledigen. Doch gerade das war der Anfang vom Ende der "Sternenfreundschaft" (16).

Als einer der ersten Angegriffenen, der Theologe David Friedrich Strauß, den er in seiner ersten Unzeitgemäßen Betrachtung als Philister der übelsten Art vernichtete, ein halbes Jahr nach dieser Veröffentlichung starb, war Nietzsche sehr betroffen. Cosima kanzelte ihn ab. Sie "gestatte keinerlei Sentimentalitäten in Dingen des Geistes, und es bleibt sich darin gleich, ob einer krank oder sterbend ist, wenn er schädlich erscheint." (17) Cosima brachte in Wagner Leben eine neue Komponente von Härte, die Wagners menschliche Defizite noch verstärkte, aber dazu später.

Den endgültigen Bruch dürfte die Veröffentlichung der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung Richard Wagner in Bayreuth, die rechtzeitig zu den ersten Festspielen 1876 erschien, verursacht haben. Richard Wagner ließ sich, offenbar noch bevor er das für ihn peinliche Charakterporträt gelesen hatte, zu einem begeisterten "Ihr Buch ist ungeheuer!" hinreißen. Als er das Lesen nachgeholt hatte, brach er den brieflichen Kontakt zu Nietzsche ab – bis auf die schon erwähnte Unterwäsche-Bestellung.

Ende Oktober 1876 wagte es Nietzsche, der den Herbst gemeinsam mit seinem Freund Paul Rée bei Malwida von Meysenbug in Sorrent verbrachte, den quasi nebenan urlaubenden Wagner zu besuchen. Cosima konstatierte, dass Nietzsche "sehr angegriffen" wirkte, und dass "Dr. Rée, welcher uns durch sein kaltes pointiertes Wesen nicht anspricht, Israelit sein muss." (18) Richard hingegen fühlte sich bemüßigt, seinen Jünger vor dem gefährlichen Einfluss des Judentums zu warnen, möglicherweise riet er ihm ein weiteres Mal, zu heiraten. Ein Rat, den er seinen Jüngern gerne erteilte, auch Ludwig II. wurde davon nicht verschont.

Den Schlusspunkt der als epochal kolportierten Freundschaft setzte Wagner mit einem Brief an Nietzsches behandelnden Arzt Otto Eiser. Eiser schien als Gründer des Frankfurter Wagner-Vereins durchaus geeignet, Wagners Rache an Nietzsche zu vollziehen. Und er funktionierte gut, der Herr Doktor, denn als Nietzsche ihn, vermutlich am 4. April 1878, in seiner Frankfurter Praxis aufsuchte, hielt ihm Eiser Wagners Brief unter die Nase, in dem Wagner in vordergründig wohlmeinenden, Besorgnis ausdrückenden Worten Nietzsches Symptome auf "Folgen der Onanie", sprich: Homosexualität, zurückführte. Im gleichen Aufwasch vernaderte Wagner auch zwei alte Freunde und Geldgeber, die an ähnlichen Symptomen zugrunde gegangen sind". Dabei wusste er genau, dass der eine, Theodor Apel, der ihm in Paris mit großzügigen Geldgaben unterstützte, durch einen Reitunfall "vollständig erblindet" war. Dass der andere, Karl Ritter, "mit jammervoll zerrütteten Nerven" dahinsieche (19), war ebenfalls erlogen. Er, der Wagner während seiner Arbeit am 2. Tristan-Akt in Venedig aufopfernd zur Seite stand, hatte sich Wagners Zorn zugezogen, als er ihm ein Geldgeschenk verweigert hatte (20).

Wagners Rache war geglückt und der Verrat des Spions, der sich in sein Vertrauen geschlichen hatte, bestraft, denn selbstverständlich machte das Gerücht vom perversen Nietzsche die Runde unter den glühenden Wagnerianern und belastete dessen weiteres Leben sehr.

Das Schlimme an dieser "Sternenfreundschaft", die sich zur "Erdenfeindschaft" wandelte, war, dass sie als exemplarisch für viele andere Wagnerfreundschaften gelten kann. Aus Wagners Sicht liefen seine Freundschaften nämlich alle gleich ab: er lieferte sich und seine Freundschaft vollständig und mit großer Emotionalität þ auch das Vokabel "Schleimerei" würde passen – aus. Alsbald erkannte er klar, dass sich der andere die Zuneigung zu Unrecht angeeignet, ja regelrecht erschlichen hatte und daher bestraft werden müsse. Bedauernd stellte die überaus dünkelhafte Cosima fest, dass man "immer wieder auf dieselben Erfahrungen" zurückkäme (21).

Auf die Idee, dass er selbst Ursache dieses Verhaltensmusters sein könnte, kam Wagner natürlich nicht, denn er betrachtete sich als Zentrum der Welt, nach dem sich die anderen auszurichten hatten. Mit vermeintlich vollem Recht, so der Wagner-Experte Joachim Köhler, brachte er seine ohnehin opferbereiten Freunde in demütigende Abhängigkeiten, missbrauchte seine Mäzene, brüskierte seine Künstler und so weiter (22). Dabei könnte natürlich eine gewisse Rolle gespielt haben, dass viele der Wagner-Jünger Juden waren, was ihm aus seiner Sicht das natürliche Recht gab, sie zu verspotten und zu benutzen, und ihm auch eine Rechtfertigung für sein übles Verhalten lieferte, das, wie schon erwähnt, in seinen letzten Lebensjahren durch Cosima noch verstärkt wurde. Exemplarisch dafür ist die Beziehung zu Carl Tausig. Sie begann lange, bevor Cosima Wagner usurpierte, Ende Mai 1858. Freund Liszt hatte seinen hochbegabten Schüler zu Wagner nach Luzern geschickt, damit der kaum Siebzehnjährige "underkerl" (23) Wagners Erard "gehörig bearbeiten solle" (24). Nach anfänglichen Schwierigkeiten – der kleine Tausig war gar zu ungestüm – entwickelte sich dann doch so etwas wie eine länger andauernde Freundschaft. Tausig unterstützte den Meister nicht nur seelisch, als Wagner 1863 in Wien an den schwierigen Tristanproben litt. Dass die geplante Uraufführung trotz siebenundsiebzig Proben doch nicht zustande kam, lastete Wagner den Intrigen des mächtigen und spitzzüngigen Musikkritikers Eduard Hanslick an, den er für einen Juden hielt (25). Tausig übernahm 1871 die Geschäftsführung des Bayreuther Patronatsvereins, der die Finanzierung von Wagners Wunschtraum in Angriff nahm. Als Tausig im Juli 1871 am Typhus starb, fiel Cosima nichts Besseres ein als die Bemerkung: "Ob er auch genese, ist er jedenfalls für unsere Unternehmung verloren; welche Lehre. Sein Tod erscheint uns metaphysisch begründet: ein armes früh verlebtes Wesen, der keinen Glauben an sich hat, doch eine innere tiefe Fremdartigkeit (die jüdische) empfindet. Und zwei Tage später schrieb sie, "Tausig's trauriges Leben" betrachtend: "Fluch des Judentums" (26).

Ähnlich kränkend verhielt sich Wagner – mit Cosima im Rücken – den alten Freunden Heinrich Porges und Peter Cornelius gegenüber: in den Tagen der Grundsteinlegung des Festspielhauses meinte er, dass er "früher immer nur mit Lumpen zu tun gehabt" hätte. Die beiden fühlten sich angegriffen und waren so verstimmt, dass sie schworen, "keine zehn Wagen" würden sie "mehr nach Bayreuth" bringen (27).

Peter Cornelius war, wie auch Hans von Bülow, überhaupt sehr geduldig mit dem Meister gewesen. Als er sich in dasselbe Mädel verliebte wie Wagner, die rassige, vollbusige und ziemlich junge Seraphine Mauro, die Nichte von Wagners Gastgeber Josef Standhartner in Wien, überließ er ihm "die Puppe"freiwillig.

Nicht ganz so freiwillig gab Hans von Bülow seine Cosima her, aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Die Entscheidung, das muss man fairerweise sagen, fällte Cosima. Richard wurde von Cosimas unerwartetem Auftauchen samt vier Kindern und Hausrat völlig überrumpelt. Er hatte trotz des im November 1863 während einer Kutschfahrt unter "Tränen und Schluchzen" gegebenen "Bekenntnisses", "uns einzig gegenseitig anzugehören" (28), einer anderen das geregelte Zusammenleben versprochen: Mathilde Maier.

Aber Cosima überzeugte Richard. Und Richard fand doppeltes Vergnügen daran, nicht nur seinen getreuen Jünger Hans von Bülow, die "Mücke, die sich im Licht verbrennen muss" (29), seine Überlegenheit spüren zu lassen, sondern auch den beneideten Franz Liszt vor den Kopf zu stoßen. Er konnte es Liszt trotz aller Liebes- und Unterwerfungsbezeugungen seinerseits nicht verzeihen, dass Liszt für jedes seiner Konzerte ein Vermögen erhielt, während er selbst froh sein musste, wenn er vom Erlös seiner Dirigate Saalmiete und Musiker bezahlen konnte.

Liszt ahnte von diesen Vorbehalten nichts. Er war ehrlich von Wagners musikalischem Genie überzeugt. Mit der festlichen Aufführung von Wagners Tannhäuser am 16.Februar 1849 und der Aufführung von weiteren Wagnerschen Opern wollte er seiner Wahlheimat Weimar den Glanz Goethe'scher Zeiten wiederbringen.

Wagners übliche emotionale Ausbrüche befremdeten den zurückhaltenden, auf Würde bedachten Liszt in höchstem Maße. "Wagner hat zuweilen etwas wie die Schreie eines jungen Adlers in der Stimme", berichtete er im Sommer 1853 aus Zürich nach Weimar. "Als er mich wiedersah, da weinte, lachte und tobte er vor Freude, mindestens eine Viertelstunde lang." Ein Verhalten, das Liszt weder angebracht noch passend schien, zumal sich Wagner anderen gegenüber ganz anders benahm. "Seine Beziehungen zu den Musikern sind die eines großen Generals, seine Anforderungen an die Künstler von einer unbarmherzigen Strenge", erfuhr Prinzessin Carolyne von Sayn-Wittgenstein weiters. "Was mich anbelangt, so liebt er mich von ganzer Seele und sagt unaufhörlich: ’Sieh, was du aus mir gemacht hast!’ – Zwanzigmal am Tage ist er mir um den Hals gefallen, dann wälzt er sich auf dem Boden herum, liebkost seinen Hund Peps und sagt ihm immer Dummheiten." Und am nächsten Tag ergänzte Liszt: "Von oben auf die Leute herabzusehen ist seine Gewohnheit; selbst gegen solche, die ihm eifrige Unterwürfigkeit zeigen. Er hat entschieden die Art und Weise eines Herrschers und nimmt auf niemanden Rücksicht. – Bei mir jedoch macht er eine Ausnahme." (30)

Liszt sollte sich irren, denn Wagners Freundschaftsmuster, verstärkt durch den in Paris entstandenen Erfolgs- und Futterneid, lief unbarmherzig weiter. Silvester 1858 erhält die Freundschaft einen ernsten Schlag, als Wagner einen aufgedrehten Brief an Liszt schrieb, in dem es, umhüllt von Beleidigungen und Spott, den er über Bekannte, Freunde und Förderer ausgoß, wieder um Geld ging, das er nicht hatte und von Liszt einforderte. Der Wagner gegenüber immer großzügige Liszt war zutiefst verletzt und wollte mit Wagner nichts mehr zu tun haben, ließ sich aber doch umstimmen und nahm Wagners Entschuldigung an. Wie dankte es ihm Wagner? Erst flirtete er mit Marie, der fünfzehnjährigen Tochter von Prinzessin Carolyne, die Liszt als seinen besonderen Liebling betrachtete. Dann versuchte er sein Glück bei Liszts verheirateter Tochter Blandine und dann bei der ebenfalls verheirateten Cosima.

Als Liszt die in seinen Augen unselige Verbindung zwischen Cosima und Richard zu verhindern suchte, konnte er bei Cosima für seinen Freund und Schwiegersohn Bülow lediglich eine Gnadenfrist aushandeln. Kaum war am 21. Juni 1868 die Uraufführung der Meistersinger über die Bühne der Münchner Hofoper gegangen – Wagner saß selbstverständlich an der Seite König Ludwigs II. in der Hofloge – und Wagner nach Tribschen zurückgekehrt, folgte ihm Cosima und verließ Bülow für immer. Weshalb Liszt vier Jahre lang nichts von seiner Tochter und ihrem Wagner wissen wollte.

Wagner jedoch beschäftigte sich weiter mit dem einstigen Freund. Er verbreitete, dass Liszt Freunde in der Not im Stich ließe, dass Liszt die wahre Kunst verraten habe, dass er nur "Kunst spiele", um sich Publikum und Adel anzudienen. Währenddessen plünderte er Liszts Sinfonische Dichtungen. Sie wären eine "wahre Fundgrube für Diebe", bekannte er Cosima. Bei einer Probe zur Walküre soll er dem wieder in Freundschaft aufgenommenen Liszt zugerufen haben: "Papa, jetzt kommt ein Thema, das ich von dir habe", worauf Liszt trocken erwidert haben soll: "Dann hört es wenigstens einmal jemand". (31)

Erstaunlich, dass sich Liszt auf eine Versöhnung eingelassen hatte. Aber so konnte er seine Tochter und seine Enkel besuchen, obwohl die Zeit mit dieser Familie für Liszt nicht die schönste war. Denn Wagner hasste ihn aus ganzem Herzen und versuchte, dem alten Herrn die Aufenthalte so unangenehm wie möglich zu machen, was Liszt nobel überspielte.

Völlig ungerechtfertig war auch Wagners abgrundtiefer Hass, mit dem er Giacomo Meyerbeer bedachte. Entgegen allen Wagner-Legenden hatte sich Meyerbeer in Paris und auch in Berlin vehement für Wagner eingesetzt. Er hatte für ihn immer wieder Empfehlungsschreiben verfasst, ihn zu Diners und Privatsoireen eingeladen. Er hatte ihm Geld gegeben und ihm zu Überbrückungsjobs verholfen. Nur seiner Fürsprache hatte Wagner die Aufführungen seiner Opern Rienzi und Der Fliegende Holländer in Dresden und Berlin zu verdanken. Wagner revanchierte sich wie schon bekannt. "Ich werde ein treuer, redlicher Sklave sein" (32), schrieb er seinem Gönner 1840. Und noch 1846 vertraute er Hanslick an: "Ohne Meyerbeer hätte ich in Paris mit meiner Frau verhungern können." (33)

Und dann, als er dachte, er hätte sein großes Vorbild überflügelt, folgte der übergangslose Umschwung. Die Bösartigkeiten wurden durch eine Bemerkung zu Schumann eröffnet – er nannte Meyerbeer einen "absichtlich schlauen Betrüger" (34) – und gipfelten nach vielen antisemitischen Ausfällen in der Behauptung, Meyerbeer habe immer zwei Empfehlungsbriefe verschickt: Einen, den Wagner selbst überbringen sollte, in dem Meyerbeer Wagner als "herausragend begabt" lobte, und einen zweiten, den er Wagner vorausschickte, in dem er "Wagner als unfähigen Menschen signalisiert" habe, den er loszuwerden wünsche. Wagner war mit dieser Erfindung so überzeugend, dass in Bayreuth die Sage von Meyerbeers "Urias-Briefen" die Runde machte, in Anspielung auf König David, der seinen Nebenbuhler Urias in die vorderste Front stellen ließ und ihn somit in den Tod schickte. Sogar Wagners Biograph Glasenapp (35) fiel auf diese Geschichte herein, für die es laut Joachim Köhler keinerlei Beweis gebe (36).

Den Verrat, den Wagner seinen diversen Freunden und Gönnern anlastete, beging er immer wieder selbst. Zwei winzige Details aus der Begegnung mit Mathilde Wesendonck: "Dilettanten-Gedichte" nannte er ihre lyrischen Herzensergüsse, die er durch seine Vertonung als Wesendonck-Lieder berühmt machte. Und: die unendliche Liebe, die er vermutlich wirklich empfunden hatte, spielte er Cosima gegenüber herunter. Er bezeichnete Mathilde als "unzurechnungsfähig" (37), meinte, er habe "uch poetisch dieses Verhältnis verschleiert, um dessen Trivialität nicht zuzugeben" (38), und er habe den Vorschlag "uns zu heiraten", den sie als "Sakrilegium" ablehnte, ohnehin nicht ernst gemeint (39).

Bleibt nur noch eines: die Größe und Noblesse von Otto Wesendonck zu würdigen, der von Wagner in übelster Weise finanziell und emotional ausgebeutet wurde. Denn nicht einmal, als der Skandal öffentlich bekannt wurde, verlor Otto Wesendonck seine Contenance. Er bezahlte Wagners Zürcher Schulden und dessen folgenden Aufenthalt im Palazzo Giustiniani am Canal Grande in Venedig. So ist die Entstehung und Vollendung des epochalen Werks Tristan und Isolde nicht nur Mathilde, sondern auch Otto Wesendonck zu verdanken.


Anmerkungen

(1) Hurenaquarium und andere Unhöflichkeiten. Richard Wagner im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Herausgegeben von Wilhelm Tappert im Jahr 1876, vermehrte Auflage 1903. München 1968, Deutscher Taschenbuch Verlag, S.73. Übersetzt von FCR.
(2) Tappert, a.a.O., S.11.
(3) Le Figaro, 3. März 1882.
(4) Köhler, Joachim: Der letzte der Titanen. Richard Wagners Leben und Werk. München 2001, Claassen Verlag, S.395. // Wagner Sämtl.Briefe 4, S.482., auch Drüner, Ulrich: Schöpfer und Zerstörer. Richard Wagner als Künstler. Köln Weimar Wien 2003, Böhlau Verlag, S 122f.
(5) Zitiert nach Drüner, a.a.O., S.119.
((6) Interessante Details liefert Eva Rieger in ihrer Untersuchung "Minna und Richard Wagner. Stationen einer Liebe". Düsseldorf und Zürich 2003, Artemis & Winkler.
(7)Drüner, a.a.O., S.120f.
(8) Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 1/1869-1872. München / Zürich 1976, R.Piper & Co Verlag, S.102f.
(9) Drüner, a.a.O., S.146. // SB III, S.544.
(10) Drüner, a.a.O., S.148.
(11) Zitiert nach Borchmeyer, Dieter: Nietzsche, Cosima, Wagner. Porträt einer Freundschaft. Frankfurt am Main und Leipzig 2008, Insel Verlag, S.24.
(12) Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 1/1869-1872. S. 167.
(13) Borchmeyer, a.a.O., S.34.
(14) Köhler, a.a.O., S.650.
(15) Borchmeyer, a.a.O., S 44f. /
(16) Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. 4. Buch, Nr. 279. Wagner wird allerdings nicht ausdrücklich erwähnt.
(17) Köhler, a.a.O., S.660.
(18) Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 2/1873-1877, S.1011f.
(19) Köhler, a.a.O., S.673f.
(20) Köhler, a.a.O., S.653.
(21) Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 3/1878-1880, S.130.
(22) Köhler, a.a.O., S.80f.
(23) Tatsächlich nannte Liszt seinen Schüler so, nicht Wagner, wie zum Beispiel in der Spalte 151 des 13. Band der MGG, des Standardnachschlagewerks Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hg.v. Friedrich Blume, Kassel Basel London 1966, Bärenreiter Verlag, zu erfahren ist.
(24) Glasenapp, Carl Friedrich: Das Leben Richard Wagners in sechs Büchern. Leipzig, Breitkopf & Härtel (1853 - 1864). - 4. unveränd. Ausg - III, S.180f.
(25) Köhler, a.a.O., S.580.
(26) Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 1/1869-1872, S.416.
(27) Glasenapp, a.a.O., V, S.32, Fn.
(28) Wagner, Richard: Mein Leben. Herausgegeben von Martin Gregor-Dellin, München 1963, List Verlag, S.745f. // Köhler, a.a.O., S.590.
(29) Köhler, a.a.O., S.653.
(30) Zitiert nach Rehberg, Paula: Liszt. Eine Biographie. Zürich 1961, Artemis Verlag. Taschenbuchausgabe München 1978, Goldmann Verlag, S.270f.
(31) Köhler, a.a.O., S.41; Glasenapp VI, S.134.
(32) Köhler, a.a.O., S 176; Sämtliche Briefe I, S.388.
(33) Köhler, a.a.O., S.177.
(34) Köhler, a.a.O., S 178; Sämtliche Briefe I, S.576.
(35) Köhler, a.a.O., S.180; // Glasenapp I, S.340.
(36) Köhler, a.a.O., S.180.
(37) Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 1/1869-1872, S.508.
(38) Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 1/1869-1872, S.275.
(39) Wagner, Cosima: Die Tagebücher. 2/1873-1877, S.653.

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